Wie kam es zur Ermordung von Menschen mit Beeinträchtigungen in der Zeit des Nationalsozialismus?

300.000 Opfer

Zu den vielen Grausamkeiten des nationalsozialistischen Regimes gehört die Ermordung von Menschen mit körperlichen, seelischen oder geistigen Behinderungen. Aber auch Kriminelle, Kritiker des Systems, Arbeitslose, Alkoholiker, Alte, Nichtsesshafte – also all jene, die keinen Nutzen erwarten ließen – und sogenannte „Gemeinschaftsunfähige“ galten im Nationalsozialismus als „Ballastexistenzen“, die der „Volksgemeinschaft“ zur Last fielen. Schließlich gerieten viele Altersverwirrte, traumatisierte Veteranen des Ersten Weltkrieges und potentielle Verwundete des aktuellen Krieges zu potentiellen Opfern. Schon länger hatte es Überlegungen zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ gegeben. Doch erst mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1.9.1939 entschied Adolf Hitler persönlich, umfassende Tötungsaktionen planen und durchführen zu lassen. Er wollte damit Kosten, die dem Staat für die Pflege entstanden, einsparen und neue Kapazitäten schaffen für den im Krieg benötigten Lazarettraum. Insgesamt wurden während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und in den von Deutschland besetzten Ländern etwa 300.000 Menschen zu Opfern der NS-„Euthanasie“-Verbrechen. Die bekannteste Vernichtungsaktion erhielt den Decknamen „T4“, weil sie zentral aus der Tiergartenstraße 4 in Berlin organisiert und gesteuert wurde.

 

Die Aktion „T4“

Zwischen Januar 1940 und August 1941 fielen dieser Mordaktion insgesamt mindestens 70.997 Psychiatriepatienten zum Opfer. Die Vorbereitung, Durchführung und der Abbruch der Aktion „T4“ sind gut erforscht. Hitler hatte bereits 1929 die Tötung „der Schwächsten“ gefordert. Er scheute jedoch zunächst davor zurück, diese Forderung auch in die Tat umzusetzen, weil er Widerstand aus der Bevölkerung und besonders von den Kirchen befürchtete. Dies änderte sich mit Beginn des Zweiten Weltkrieges. 

Zur Durchführung der Aktion T4 wurde die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ gegründet. Sie organisierte die bürokratische Erfassung der behinderten und kranken Menschen, ihre Konzentration in staatlichen Einrichtungen, schließlich die Verlegung in die Vernichtungsanstalten und die Abrechnung mit den Kostenträgern. Die „Reichsarbeitsgemeinschaft“ war eine Behörde mit 400 Mitarbeitern. Der T4-Zentrale waren sechs Tötungsanstalten unterstellt (Grafeneck bei Reutlingen, Brandenburg an der Havel, Bernburg an der Saale, Linz in Österreich, Sonnenstein bei Pirna und Hadamar bei Limburg).

 

Hadamar in Hessen

Die zentrale Tötungsanstalt für psychisch kranke Menschen aus Hessen wurde Hadamar. Die weitaus meisten Opfer der „Euthanasie“ aus dem ehemaligen Landkreis Eschwege wurden dort umgebracht. Die ehemalige Landesheilanstalt wurde bis zum Januar 1941 für ihre neue Zweckbestimmung umgebaut. Im Keller des Haupthauses richtete man eine Gaskammer und zwei Krematorien ein. Für den Transport der Leichen wurde zwischen der Gaskammer und den Krematorien eine Lorenstrecke gebaut. Die Belegschaft wurde von 25 auf ca. 100 Personen erhöht.

Bisher konnten 42 Opfer der NS-„Euthanasie“-Verbrechen aus dem ehemaligen Landkreis Eschwege identifiziert werden. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen. Weitere Forschungen sind nötig, um die Gesamtzahl und die Lebenswege der betroffenen Menschen zu ermitteln. 

Obwohl die Aktion T4 der Geheimhaltung unterlag und einige Anstrengungen unternommen wurden, sie zu verschleiern, konnte sie bei der enormen Zahl von Opfern nicht im Verborgenen bleiben. Informationen gelangten in die Öffentlichkeit, Gerüchte waren weit verbreitet.          

Insgesamt war die Aktion T4 ein weiterer Schritt des nationalsozialistischen Regimes auf dem Weg zur Durchsetzung ihres Menschenbildes. Was mit der Verletzung von Bürgerrechten begonnen hatte, setzte sich in der „Aktion T4“ als „Großverbrechen“ fort. Und es sollte nicht der letzte Schritt sein: „Wer zulässt, dass die eigene an Schizophrenie leidende Tante in der Gaskammer stirbt oder der fünfjährige spastisch gelähmte Sohn die Todesspritze erhält, den wird das Schicksal der als Welt- und Volksfeinde verfemten Juden nicht kümmern, der wird gleichgültig bleiben, wenn zwei Millionen sowjetische Gefangene binnen sechs Monaten verhungern, damit deutsche Soldaten und deren Familien mehr zu essen haben“ (Götz Aly). Erst die militärische Niederlage im Jahr 1945 machte dem Grauen ein Ende.

 

Neuanfang?

Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte zwar in vieler Hinsicht eine Befreiung und einen Neuanfang, aber es gab auch befremdliche Kontinuitäten. In den Heil- und Pflegeanstalten Hessens setzten viele (auch leitende) Mitarbeiter, die am nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programm mitgearbeitet hatten, ihre Dienste fort. Auch die Aussonderung von Menschen mit Behinderungen war noch lange der Normalfall.

 Erst allmählich kam es zu einer Neubesinnung, auch in der Region Werra-Meißner. In Hessisch-Lichtenau entstand bereits in den 50iger Jahren das erste Internat für körperbehinderte höhere Schüler in der Bundesrepublik Deutschland. Später gründeten sich die Vereine „Werraland Werkstätten“ (1971) und „Partner für psychisch Kranke e. V.“ (1983) (seit 1999 „Aufwind – Verein für seelische Gesundheit e. V.“), die sich zunächst für bessere Lebensbedingungen, dann aber auch für Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen einsetzen. 

 

Erinnerung

Die Opfer des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms sollten nicht vergessen werden. Nicht nur in den ehemaligen Heil-, Pflege- und Tötungsanstalten, auch hier in der Region gibt es nun einen Ort, an dem an die Opfer aus dem ehemaligen Landkreis Eschwege erinnert wird. An der Wohn-Pflege-Einrichtung von „Aufwind“ in Eschwege (Stadthaus Brühl 6) wird mit einem Namensfries an der Straßenseite des Gebäudes an die Männer, Frauen und auch ein Kind aus Abterode, Albungen, Burghofen, Datterode, Eltmannshausen, Eschwege, Frankenhain, Langenhain, Netra, Niederhone, Rambach, Reichensachsen, Waldkappel, Wanfried und Weißenborn erinnert, die wegen ihrer Behinderung getötet wurden.